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Heldin des Alltags: Selina Lerch

[ Heldinnen-Porträt Februar 2022 ]


[ Extinction Rebellion I Interview am 09.12.2021 ]



Heldinnen-Affirmation:


Mach deinen Unmut sichtbar. Zeige Gesicht.

Trau dich zu handeln, statt nur darauf zu hoffen, dass sich etwas ändert. Nimm die Maske ab und zeige dich mit dem, was dich bewegt, sorgt und verletzt, damit ein aufeinander zugehen möglich wird und Dialog entstehen kann.


 

Extinction Rebellion (XR) ist eine selbstorganisierte, dezentralisierte, internationale und politisch unabhängige Bewegung, die gewaltfreien zivilen Widerstand einsetzt, um Regierungen dazu zu bewegen, auf gerechte Art und Weise auf die ökologische Krise und den Klimanotstand zu reagieren. Schon vor der Herbstrebellion 2021 war mir XR ein Begriff. Mit den Strassenblockaden, die sie im Zusammenhang mit der Herbstrebellion organisiert haben, sind sie mir aber nochmals verstärkt ins Bewusstsein gerückt. Daher habe ich mich in Verbindung gesetzt, um eine dort engagierte Frau für diese Porträtreihe zu gewinnen. Selina wurde mir auf meine Anfrage von der Medienstelle der Extinction Rebellion als «Gesprächspartnerin» vorgeschlagen und der Kontakt zu ihr vermittelt. Insofern fühlte sich das virtuelle Treffen mit ihr zunächst ziemlich «Blind Date»-mässig an – von keiner anderen bisherigen Heldin wusste ich vorab so wenig wie von Selina.

Im Gespräch habe ich Selina dann als ruhenden Pol erlebt, der gleichzeitig viel in Bewegung setzt. Selina’s Heldinnenkraft zeichnet sich für mich dadurch aus, dass sie zentriert wie ein Fels in der Brandung steht und sich bewusst den Gezeiten aussetzt. Sie lässt die Wellen (der Empörung) an sich heran (und an sich brechen); versteht dies aber als natürliche Dynamik im Gesamtkontext und kann es damit zulassen.



Liebe Selina, du engagierst dich bei der Extinction Rebellion in der Schweiz dafür, in Sachen Klimanotstand etwas in Bewegung zu bringen. Wie bist du mit dieser sozialen Bewegung in Berührung gekommen?

Vor zwei Jahren, im Jahr 2019, fanden die ersten Aktionen von Extinction Rebellion in der Schweiz statt und zwar in Biel/Bienne – der Stadt, in der ich lebe. Ich bin darauf aufmerksam geworden und wollte erst einmal nur eine Idee davon bekommen. So habe ich bei den ersten Aktionen mitgemacht, war aber zunächst nicht mit den tieferliegenden Ansätzen und der zu Grunde liegenden Strategie von Extinction Rebellion vertraut. Im April 2020 wurde der Lockdown verhängt und damit kamen für’s Erste alle Aktionen von XR zum Erliegen. Im Frühling 2021 entwickelte sich dann wieder neue Dynamik, es stiessen motivierte Leute zur Bewegung dazu und es entstanden verschiedene Arbeitsgruppen. In diesem Zusammenhang habe auch ich mich mehr eingebracht und bin seitdem aktiver Teil von XR.


Mit dem Engagement bei Strassenaktionen riskierst du Strafen zu kassieren oder sogar verhaftet zu werden. Das zeugt für mich für einen sehr hohen Einsatz in Form von Zivilcourage. Warum gehst du dieses Risiko ein, warum machst du das?

Für mich ist diese Art von Engagement eine Möglichkeit, um meiner Unzufriedenheit im Umgang mit der Klimakrise Ausdruck zu verleihen und mich aufzulehnen gegen die diesbezügliche Trägheit des politischen Systems. Schon vor XR habe ich im eigenen Leben, auf individueller Ebene, beispielsweise durch die Umstellung meiner Ernährung und meines Einkaufsverhaltens, eine Form gefunden, einen Beitrag gegen die Klimakrise zu leisten. Allerdings habe ich festgestellt, dass mir dies nicht reicht. Ich wollte auch zeigen, dass ich nicht einverstanden damit bin, wie untergeordnet dieses zentrale Thema auf politischer Ebene behandelt wird. Die drei Forderungen (Anm.: siehe Ende des Beitrags) von XR greifen genau das auf und bringen zum Ausdruck, was ich mir wünsche. Nämlich, dass politisch endlich etwas in Bezug auf die Klimakrise in Bewegung kommt; und zwar grundlegend. Eine Studie dieses Jahr hat gezeigt, dass die grösste Besorgnis der Schweizer Bevölkerung nach Covid direkt die Klimakrise fokussiert. Anstatt nur zu hoffen, dass sich etwas ändert, möchte ich selbst ins Handeln kommen – auch wenn es auf den ersten Blick nur Probleme wie Strafen oder auch das Rechtfertigen im familiären Kreis mit sich bringt.


Nicht nur hoffen, dass sich etwas ändert, sondern auch etwas tun... dazu passt der Ausspruch von Albert Einstein: «Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und trotzdem zu hoffen, dass sich etwas ändert.»

Nun ist die Form, die Extinction Rebellion gewählt hält, um etwas zu bewirken, nicht jedermanns/jederfraus Sache: Ziviler Ungehorsam. So einige empfinden diese Ausdrucksform als radikal, störend und destruktiv. Wie nimmst du das wahr?

Natürlich stossen wir mit unseren Aktionen auf Widerstand; uns ist bewusst, dass genervte Reaktionen auftreten. Genau diese Auseinandersetzung ist aber auch gewollt. Seit 30 Jahren ist die Klimaproblematik bekannt – aber es passiert zu wenig, um ihr wirklich Einhalt zu gebieten. Die politischen Mühlen mahlen viel zu langsam, als dass ein Engagement in Form von bestehenden politischen Instrumenten Sinn macht. XR möchte deshalb durch Störung Sand in dieses Getriebe streuen; denn genau das kreiert Debatten und Diskussionen. Daher geht XR auch bewusst den Weg der gewaltfreien Konfrontation. Wir suchen bei den Aktionen pro-aktiv das Gespräch mit Aussenstehenden, auch wenn das nicht immer einfach ist, weil einem viel Ablehnung und Hass entgegenschlägt. Es gibt von Seiten XR sogar Peacemaker:innen, die extra ein Training dafür absolvieren, um der Eskalation von Situationen vorzubeugen.


XR legt also Wert auf GEWALTFREIEN zivilen Ungehorsam. Welches Ereignis im Laufe deines Engagements bei XR ist dir in diesem Zusammenhang besonders eindrücklich in Erinnerung?

Mich haben zwei Erfahrungen besonders geprägt: Zum einen die Aktion 2020, als wir mit 200 Aktivist:innen die Quaibrücke in Zürich blockiert haben. Das war meine erste grosse Aktion ausserhalb von Biel/Bienne und mich hat beeindruckt und schockiert, mit welchem Aufgebot an Polizeipräsenz und welcher Maschinerei diesem friedlichen Protest begegnet wurde. Ich habe mich damals fast wie eine Kriminelle gefühlt und fühlte mich ungerecht behandelt, weil ich doch nur für mehr Gerechtigkeit und Handeln angesichts der Klimakrise einstehen wollte. Dieses Ereignis hat mich noch lange emotional begleitet und beschäftigt.


Wie hast du diese Erfahrung für dich verarbeitet? Was hat dir dabei geholfen?

Der Austausch mit anderen Gleichgesinnten. Zu spüren, dass ich nicht allein mit diesen Erfahrungen bin und darüber reden zu können, wie andere diese Situation erlebt haben, war sehr hilfreich für mich. Ausserdem habe ich im Herbst dann an einer weiteren Aktion in Biel/Bienne teilgenommen. Das hat mir geholfen, mich als selbstwirksam zu erleben und wieder präsent zu haben, warum ich das alles tue.


Und die zweite prägende Erfahrung, von der du sprachst?

Das knüpft genau an dieses Erleben von Sinnhaftigkeit an. In der Herbstrebellion 2021 war ich statt in den Aktionen selbst mehr im Hintergrund tätig, habe im Fürsorgeteam dafür gesorgt, dass die Aktivist:innen Verpflegung und Unterkunft haben und war im dem Zusammenhang auch immer wieder mit dem Strategieteam in Kontakt. Dadurch habe ich tiefere Einblicke erhalten, welche Strategie und welcher Sinn dahinter steht und warum XR diesen Weg wählt – nämlich, um Debatten und die Auseinandersetzung mit der Klimakrise anzustossen.


Nun ist das definitiv kein leichter Weg für einen selbst. Ich habe bei einer Aktion im Rahmen des alljährlichen Park(ing) Day im September, bei dem sich Parkplätze für einen Tag angeeignet werden, um den öffentlichen Raum zu weiten und Begegnung und soziale Interaktion zu schaffen, bittere Erfahrungen gemacht: Ich wurde angefeindet, verbal wie körperlich angegriffen und war am Ende völlig zerschlagen, weil ich eigentlich inspirierende Glücksimpulse streuen wollte – und letzten Endes Hasstiraden von aufgebrachten Autofahrer:innen geerntet und negative Gefühle heraufbeschworen hatte.

Daher liegt mir sehr am Herzen zu erfahren, wie du es schaffst, trotz aller Anfeindung gelassen zu bleiben und den Dialog zu suchen?

Ein wichtiger Punkt ist sicher, sich vorab bewusst zu sich, was einen erwartet und zu wissen, dass aggressive Reaktionen nicht nur sehr wahrscheinlich, sondern auch natürlich sind. In einer Situation, in der ich selbst blockiert werde, würde ich vermutlich auch genervt reagieren. Aus diesem Grund gibt es bei XR ein Training zu zivilem Ungehorsam, um psychisch auf solche Situationen vorbereitet zu sein. Dabei spielen die Instrumente der gewaltfreien Kommunikation eine wichtige Rolle und das Verständnis, wie du auf andere zugehen kannst, damit das Gespräch nicht als konfrontativ erlebt wird. Diese Werkzeuge finde ich sehr wertvoll und wende sie immer wieder an.

Zudem spielt es eine Rolle, ob das Gegenüber überhaupt offen für ein Gespräch ist. Wenn die Gesprächsbereitschaft nicht gegeben ist, macht es wenig Sinn den Dialog zu suchen.


[ Essenziell für Dialog: Verletzlich sein und sich als Mensch zeigen. ]

Ein für mich zentraler Punkt ist ausserdem, dass ich mich nicht hinter dem Logo der Bewegung verstecke und die Bewegung als solche vorschiebe, sondern Gesicht zeige und als Individuum sichtbar werde, mit den Sorgen, die mich bezüglich der Klimakrise umtreiben. Gesicht zu zeigen bedeutet für mich, meine Ängste zu kommunizieren, meine Beweggründe zu erklären und als Mensch aufzutreten statt als Vertreterin von XR. Wenn das Gegenüber bereit ist, mich in dieser Form empathisch wahrzunehmen, dann kann Dialog stattfinden – von Mensch zu Mensch.


Gibt es denn gar nichts, was dich auf die Palme bringt?

Hmm ..., tja ..., ich würde sagen ... hmm... (Anm.: wie «mensch» sieht, scheint das nicht sonderlich viel zu sein).

Also vielleicht gewisse Argumente, die immer wieder angeführt werden wie beispielsweise: «In der Schweiz existieren andere politische Handlungsmöglichkeiten, haltet euch daran.» oder «Das Problem ist doch halb so schlimm.» oder «Du bist privilegiert, dass du dir diesen zivilen Ungehorsam überhaupt leisten kannst. Das ist aber nicht sehr inklusiv, denn andere hätten überhaupt nicht die Möglichkeit dazu.»


Spannend: Just das letzte von dir genannte Argument führen nämlich einige «Heldinnen des Alltags» als Pro-Argument auf, WARUM sie engagiert sind: Weil